René Déroudille
Plastik des "Mannigfaltigen"...


 
Als „lgitur"*) in Gegenwart von „Mitternacht" langsam zum Grabe hinabstieg, ergab er sich nicht verzweifelt den Geheimnissen des Nichts, sondern er ahnte nach der Niederlage des „Zufalls" das „Schloß der Reinheit", dessen Wonnen andere nach ihm unangefochten genießen durften.
 
Die „Folie d'Elbehnon" erwies sich als notwendig ,sie enthüllte jenseits der unendlichen Räume, die noch die Verzweiflung der „Nächte" von Pascal ausgemacht hatten, den Bereich des Möglichen und des „Mannigfaltigen", in dem unser Handeln sich vollzieht.
 
Hier gilt es nun, sich der Sicherungen einer bewährten Ordnung zu entschlagen, Verzicht zu leisten auf die mehr oder weniger soziale Geborgenheit in einer anerkannten Doktrin, um die immer neuen Möglichkeiten einer fortschreitenden Wahrheit zu erreichen und an Stelle eines von seinen fundamentalen Ängsten befreiten Bewußtseins die fruchtbaren Fährnisse eines schöpferischen Lebenswillens zu entdecken.
 
An der Schwelle des Nichts, dieser Kehrseite des Unendlichen und des Absoluten, ist eine Revolution zu vollziehen, die verknüpft ist mit der Wahrnehmung des ,,Mannigfaltigen" beim Herannahen des „Anderen", mit dem Eindringen in die Vielfalt der Erscheinungswelt.
 
Wenn bei diesem eigentümlichen Tun die Maler, die Musiker und einige Dichter die Ergiebigkeit solch ketzerischer Befreiung bestätigt haben, so hatten dagegen die Bildhauer, als Opfer des Materials und des Raumes, bisher große Mühe, sich vom Schein des Gegenstandes zu befreien, sowie von der Einheitlichkeit der Strukturen und dem Zwang der Themen.
 
Schon das „Leere" hatte dem Bildhauer erlaubt, seine Formen zu lockern und seine Gebilde mit dem umgebenden Raum zu verschmelzen; so bezwang er das Trägheitsmoment, welches das plastische Werk zur Strenge einer mineralischen Statik verdammte, während ihr aus Bewegung zuwuchs: unendliche Mannigfaltigkeit, das Aufgeben rationaler Logik, die Einbeziehung des Zufalls.
 
Das „Mannigfaltige" verwirft die Sicherungen der Thematik und die Kristallisation des Augenblickes, um in der Diskontinuität der Phänomene und in der Gleichzeitigkeit von oft widersprüchlichen Bewußtseinszuständen den vielfältigen Ausdruck der Möglichkeiten des Universums zu erstreben.
 
Als Werthmann 1956 auf einem Platz in Vaison-la-Romaine eine seiner Skulpturen in der Sonne der Provence ausstellte, wußte er bereits, daß das Thema, das charakterisierte Motiv - dazu bestimmt, den gedanklichen Zusammenhang zu bestätigen - ihm recht wenig bedeutete. Die Kiesel der Ouveze, die Felsen des Mont Ventoux, die Buchten des Esterel- oder des Mauresgebirges, sie alle verwiesen Werthmann auf den unablässigen Elan schöpferischer Kraft, auf die seltsame Materialisierung der verrinnenden und sich auslöschenden Zeit.
 
Der Raum begann den Zusammenhalt der Formen anzunagen, und - wie bei allen Bildhauern unserer Zeit - bekräftigten Hohlformen und Unterbrechungen die bewegte und vieldeutige Natur seines Schaffens.
 
Frühzeitig entdeckte Werthmann das grenzenlose Wirkungsvermögen des Raumes, der ganz vom „Mannigfaltigen" erfüllt ist. Die Werke zeugten von seinem Bestreben, den Anregungen des „Motivs" zu entrinnen, sowie die Einheit der Komposition und die symbolische Sicherheit des Zeichens zu meiden.
 
Wie die Gezeiten des Meeres an den Ufern der Kontinente Kieselsteine ablagern, so häufte das vielfältige und widersprüchliche Bewußtsein des Bildhauers weißglühende Schlacke im Raum an, seltsame Skelette, geheimnisvolle Sedimente, die stets die Verfügbarkeit des Blickes erheischen.
 
An die Wand geheftet, über dem Boden schwebend, dem Winde überlassen, meiden diese Skulpturen einen Hypernaturalismus, der sie in die Abhängigkeit der banalen Logik geraten ließe. Sie gehören der Welt des Widerspruchs und der Unterschiedlichkeit an, und deutlich sprechen aus ihnen die barocken Kräfte, von denen sie beseelt sind.
 
Wenn Henri Focillon in seiner Schrift „Das Leben der Formen" dem Barocken einen hohen Wert beimißt, so geht bei Werthmann das Tun über die Gefügigkeit hinaus, das Abenteuer über den Erfolg.
 
Mallarmé folgend „sollten wir in der Poesie vor allem nach Worten streben, die sich selbst so sehr genügen, daß sie keinerlei Eindrücke von außen zu empfangen brauchen und sich gegenseitig widerspiegeln, bis sie sozusagen gleichfarbig erscheinen, aber in Wirklichkeit nur die Übergänge einer Stufenfolge sind".
 
Bei der Betrachtung von Werthmanns Arbeiten geht es nicht so sehr darum, Wandlungen zu suchen, Analogien aufzufinden, den Anschein zu erraten, als vielmehr in jene komplexe Welt einzudringen, in der alle Mittel des Bildhauers nichts anderes sind, als mögliche „Stufenfolgen" zur Erforschung eines neuen bildnerischen Universums, das sich uns darbietet.
 
Man muß die Augen aufmachen und genau hinschauen, will man der bequemen Gewohnheit, dem sanften Gesäusel eines überholten Ausdrucks entrinnen, um die schöpferischen Kräfte zu entdecken, die Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit haben.
 
Nein, die Grenzen sind nicht unüberschreitbar! Nichts wurde je endgültig gesagt, und niemals ist es zu spät.... In uns und um uns liegen die Baustoffe einer neuen Kunst. Wir können zum „Mannigfaltigen" gelangen und zur Wahrnehmung einer „anderen", noch unerforschten Welt.
 
*) Schrift von Mallarmé


In: Katalog der Ausstellung Friederich Werthmann. Galerie 22, Düsseldorf, März 1960 (franz. u. dtsch.)