Wolfgang Henze
Friederich Werthmann - Plastik


I Gestalten

Spätestens seit Werthmann sich im Jahre 1957 dem Stahl als ausschließlichem Werkstoff für seine Skulptur zuwendet, wird deutlich, daß es ihm um unmittelbaren Ausdruck des künstlerisch-technischen Schaffensprozesses geht: indirekte Techniken wie Modellieren mit nachfolgendem Guß, selbst die durch einen guten Steinmetzen oder Holzschneider wiederholbare Skulptur in Stein und Holz verläßt er. Vielmehr verschreibt er sich einer Technik, bei der auch im vollendeten Werk der Schaffensprozeß noch und immer wieder deutlich erkennbar und nachvollziehbar bleibt, die andererseits aber unwieder-holbar ist, da sie ein gewisses Zufallsmoment nicht ausschließt. Den Entwurf in Form von Zeichnung gibt es nicht, Modelle für größere Aufträge fertigt Werthmann direkt und im Original-Werkstoff. Parallele Arbeiten sind die ab 1956 geschaffenen Pinselzeichnungen, keine eigentlichen Bildhauer-Zeichnungen. Nur in einer besonderen Form der Radierung, in stark reliefierten Abdrucken von Oberflächen Werthmannscher Plastikteile, die manchmal in Kaltnadelmanier weiter gestaltet werden, geschieht in der Fläche, was wir in der räumlichen Plastik beobachten.

Werthmann findet in Stahlwerken oder in der stahlverarbeitenden Industrie Teile oder läßt dort solche herstellen, die er als Grundformen benötigt und die ihn auch inspirieren, und zwar einzeln, kombiniert und auch als Serie in immer wiederkehrender gleicher Form. Der künstlerische Gestaltungsprozeß erfolgt von 1957 bis 1975 mit den Mitteln des Schweißbrenners und des Elektro-Schweißens. Die dabei durch Tropfenbildung zum Teil zufällig gebildete Oberfläche ist so unwiederholbar wie die Formationen und Risse in der Haut der Stahlbleche durch Dynamit-Explosionen nach 1975. Ähnliches wäre machbar, Gleiches nie.
Der „Zu-Fall“ ist jedoch bewußt eingeplant, sein Arbeitsfeld eng begrenzt durch Flamme und Stromstoß sowie exakt bestimmter Dynamit-Menge auf der einen und der Stärke des Stahles auf der anderen Seite.

Il Form

Kunstgeschichtlich gehört das Werk Werthmanns bis 1975 bereits zur klassischen Moderne, ist plastisches Äquivalent zu Abstraktion, Tachismus und Informel. Wenige Themen, Grundformen, werden in Serien von Realisierungen, die zeitlich oft weiträumig gestreut sind, immer wieder variiert bis hin zur Groß-Plastik im Freien oder in großen Räumen, die Werthmann das Glück hat, oft ausführen zu können.
Werthmanns Formenvorrat besteht von 1956 bis 1975 in flächigen oder kugelförmigen konzentrischen Kompositionen und Abwandlungen mit unterschiedlichsten Protuberanzen einerseits und in flächig seriell komponierten Variationen immer wiederkehrender Grundformen andererseits. Dabei gibt es Überlagerungen beider Prinzipien: die Kugel aus zahllosen kleinen Dreiecken und die Serie konzentrisch zur Kugel gruppierter variierter Halbkreise auf schwankenden Stahlhalmen. Die einzelnen Möglichkeiten der Realisierung hat Ernst G. Güse in seiner Einleitung zum Ausstellungskatalog im Wilhelm-Lehmbruck-Museum der Stadt Duisburg aus dem Jahre 1978 (S. 9, 10) eingehend beschrieben.
Mit dem erprobten Formenkanon und der gewohnten Technik können die Probleme des Jahres 1975 nicht mehr bewältigt werden: Die Arroganz des glatten Stahles wird unerträglich, mit der „Politik der kleinen Schritte“ ist ihr nicht mehr beizukommen, nur noch ein „Blow Up“ kann helfen. Werthmann empfiehlt sich der Gewalt des Dynamits und bändigt es für seine „Concetti“, seine Kompositionsideen. In dieser „Bändigung“ des Dynamits liegt ein Schimmer der Hoffnung.
Es entsteht ein neuer Formenkanon: Glatte Stahl-Rohre diverser Durchmesser und unterschiedlicher Länge werden an einer oder mehreren Stellen durch Dynamit-Explosionen kugelförmig geweitet, manchmal bis zum Bersten. Die Rohre treten einzeln, manchmal als überschlanke bambusartige Gerten, manchmal breit und gedrungen, oft zu zweit oder als Gruppe auf. Erstes Werk dieser Reihe ist „S’po’be’mia“ (1975 Werkverzeichnis 376), Höhepunkte sind „Schach-Patt“ (WVZ 488) aus dem Jahre 1978 und „Kreuzweg“ (WVZ 503) aus dem Jahre 1982.
Ebenfalls oft als Gruppen treten die von vornherein gedrungeneren Formen der aus drei schmalen langen Blechen zusammengeschweißten und dann in gleicher Weise durch Explosion geweiteten PfeiIer mit dreieckigem Grundriß und prismatischer Form auf, wie wir sie in „Dyna Drei“ 1976 (WVZ 387) zum ersten Male vor uns haben. Gesamthaft „aufgeblasen“ zu schwellender Oberfläche werden die Pfeiler weiterentwickelt und erleben ihre bislang eindringlichste Realisierung im Kreis der 36 Pfeiler-Stelen der Gruppe „Steel-henge“ (1977 WVZ 450).
Ergebnissen der „Dynamisierung“ stehen wir in den stelenartigen flachen Reliefs frontal gegenüber, welche aus zwei dynamitgeformten Blechen bestehen, die an allen Seiten zusammengeschweißt wurden, manchmal mit einem Steg, zuerst im Jahre 1976. Noch im gleichen Jahr entsteht daraus – der seitliche Steg wird breiter – das „Dyna-Kissen“ (WVZ 389 und 390), dessen ausgeprägteste Form das zusammengeschnürte „Dyna-Paket“ (WVZ 482) aus dem Jahre 1980 zeigt.
Daneben erscheinen zahlreiche Sonderformen und Abwandlungen der oben genannten drei Grundformen: Die „Steile Naht“ aus dem Jahre 1975 (WVZ 377), die sich nach oben ins Unendliche verjüngt, das „Dyna-Knie“ vor einem verdoppelnden Spiegel (1976, WVZ 392) biegt die sonst am Explosionsknoten nur wenig bis gar nicht gebogenen Rohre zum Halbrund, dies führt im „Neuner-Sinus“ des Jahres 1977 (WVZ 449) zu einer abwechselnd unter und über der Erde verlaufenden Röhre in Form der Sinus-Cosinus-Kurve.
Die prismatischen, sich zur Mitte rundenden Pfeiler scheinen weniger variabel, bewirken jedoch besonders spannungsreiche Gruppenbildungen.
Um so variabler sind die ReIiefs in breiten Blechen der „Dyna-Boff“ (WVZ 384) und „Dyna Blötsch“ (WVZ 383) des Jahres 1976. Sie dehnen sich nicht nur zu Kissen, sie erscheinen auch einteilig und einansichtig in Kästen als Relief-Objekte. Daraus entstehen dann im Jahre 1980 und 1981 die mit einer einzigen Sprengung geschaffenen Serienreliefs „Tracciabis“ (WVZ 491) und „Schlangenspur“ (WVZ 497) und das erst zu einem Drittel verwirklichte Projekt der 150 Tafeln der „Gibigianna“ (WVZ 501). Die zweiansichtigen Doppelreliefs können sich aber auch runden zum „Dyna-Ring“ 1977 (WVZ 434) und zu den „Dyn-Anelli“ 1979/80 (WVZ 459). Als senkrechte Zylindersegmente werden sie 1979/80 in Wulfen zum „Dyna-Trapass“ (WVZ 466) als spiegelbildliches Doppel links und rechts des Weges.
1977 erscheint in einem Relief zum ersten Male der Umriß einer menschlichen Figur mit Dynamit in das Stahlblech gesprengt: in dem Bodenrelief „Dyna-Padam“ (WVZ 429), so auch in den Doppelreliefs „Dyna-Trapass“ und „Stenon“ 1980 (WVZ 490) in Wulfen. In gleicher Weise sprengt Werthmann 1980/81 in ein solches aufeinander zu gewölbtes Doppelrelief „Dyna-Vinci“ (WVZ 494) die berühmte Zeichnung Leonardos zur Proportion des menschlichen Körpers nach Vitruv.
„Dyna-Vinci“ ist wiederum ein begehbarer „Trapass“ auf der Basis eines Kreises, der von den beiden auf ihm stehenden Zylindersegmenten so geteilt ist, wie die Zeichnung Leonardos. Der Bezug ist aber nach der Fertigung aufgefallen und nicht als anspruchsvolle Interpretation, sondern lediglich als respektvolle Anspielung gemeint: könnte es sein, daß der Mensch wieder zum Maß aller Dinge wird?
Seit 1982 tauchen neben dramatischen Spreng-Ergebnissen wie in „Geteilte Freud (WVZ 500), oder „Scharfe Knospe“ (WVZ 560), beruhigtere Formationen meist in Serie auftretender schlanker Rohre auf, die zwar dynamisiert wurden, jedoch jetzt auch wieder mit dem Schweiß-Gerät angegangen werden, so in „Clinch“ (WVZ 505), in den „Kneis“ (WVZ 508-510), und dem Brunnen „Drei Mal Sieben“ (WVZ 514). Schließlich wird auch wieder nur geschweißt, als Werthmann auf eine Reihe ihn inspirierender Stahl-Kugeln stößt, z.B. „Böc in Böc“ (WVZ 523). Oder das Stahlrohr wird ohne Detail-Verformung nurmehr als Großform zum „Zeichen-setzenden“ Rund gebogen, in „Looping“ im Jahre 1985 (WVZ 531), eigentlich geplant als wenige Zentimeter über einem glatten Wasserspiegel schwebend.
Die Form beruhigt sich wieder und Werthmann zieht 1987, mit 60 Jahren, Konsequenz und Summe: Die schlanke, glatte Stahlstange wird zum Grund-Element. Kräftige, geschweißte Knoten geben den Stangen, welche geometrische Räume beschreiben, Zusammenhalt und Richtung, mildern Zug und Druck der zwischen ihnen gespannten Stahl-Stange. Geometrie paart sich mit organischer Form: Knoten und Stangen be- und umschreiben federnde, zitternde Räume von kristallener Klarheit!

lll Leben

Kunst ist ein ständiger Akt der Befreiung. Daher wird das „unfreie“ weil von Vorbildern notwendigerweise abhängige Frühwerk ignoriert. Werthmann bezeichnet es als „Vorstadium“. So beginnt das Werkverzeichnis seiner Skulpturen mit den ersten Stahlarbeiten des Jahres 1957, den frühesten völlig selbständigen Werken des 30jährigen.
Zuvor zunächst das Übliche seines Jahrganges: Gymnasium, Kriegsdienst und Gefangenschaft, dann das Unübliche: im Mai 1948 verläßt er das neuerlich ertragene Gymnasium, um künstlerisch zu arbeiten, Reisen, Ausbruch! 1949-50 Maurerlehre und Gesellenprüfung, erste Arbeiten in Stein und Holz. 1950-56 intuitive Assimilierung und Bewältigung der Skulptur der ersten Jahr-hunderthälfte. Die Bekanntschaft mit den bis dahin ungekannten Vorbildern läßt ihn seine Wege als bereits von anderen begangen erkennen. 1956/57 arbeitet Werthmann mit armiertem Beton. Das hierzu notwendige Hilfsmittel, die Armierung, das Skelett, das unter der Haut bleibt als einzig Bedeutsames, wird zur Hauptsache, der persönliche Werkstoff ist gefunden: Stahl, mit dem Schweißgerät in die persönliche Handschrift gezwungen. Dem Publikum bleibt sie nicht verborgen: die eindrucksvolle Liste der Ausstellungen und der Beteiligungen sowie der öffentlichen Aufträge beginnt.
Seit 1956 lebt und arbeitet Werthmann in Düsseldorf-Kaiserswerth, seit 1968 auch teilweise im Tessin in San Nazzaro. Er ist mit der Fotografin Maren Heyne verheiratet.

IV Entwicklung des Werkes

Von den ersten „Transitionen“ und „Trigonen“ der 50er Jahre zu den glatten, spiegelnden, nur von einer waagerechten Dynamitspur gezeichneten Stahlplatten der „Gibigianna“ des Jahres 1982 scheint ein weiter Weg. Er wurde in der Tat durchmessen und erlitten und zwar höchst konsequent und nicht geschwätzig: Das Werkverzeichnis zählt bis heute annähernd 700 Nummern, die in 45 Jahren entstanden, fruchtbaren und weniger fruchtbaren, also durchschnittlich 15 Arbeiten pro Jahr von Kleinst-Skulpturen zu enormen Relief-Wänden, Brunnen, Plastik in und mit Architektur bis hin zu plastischem Gesamtschmuck für eine Stadt, wie anläßlich der Ausstellung in Wulfen 1980.

Die beiden großen Bereiche der Kunst Werthmanns, die wir heute überschauen können – vor 1975 und danach – sind nicht so eindeutig voneinander getrennt, wie es zunächst erscheinen könnte. Nach der anfänglichen Reihung aneinandergeschweißter fast gleichförmiger gebogener Stahlstäbe, wie sie sehr genau am „Trigon Düren“ (1958 WVZ 6) des Düsseldorfer Kunstmuseums zu beobachten ist, entdecken wir bereits 1959 eine Vorliebe für flächigen Stahl, z.B. in „Gewinn der Mitte“ (WVZ 35, Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg). In den folgenden Jahren setzt sich der flächige, unbehandelte Stahl allmählich mehr durch, es kommt zu einem Antagonismus von durchgebildeter kleinteiliger skulpturaler Form und großflächiger glatter geometrischer Form, der, – mal harmonisch, mal kontrapunktisch gelöst, – Werthmanns Skulpturen bestimmt.
Seit 1975 gewinnt die glatte Fläche des Stahles – nicht mehr in rein geometrischer sondern in dynamisierter Form – die Oberhand. Die Gestaltung in der hergebrachten Schweiß-Technik zieht sich auf Kanten, Risse und Nähte zurück, ist dort jedoch noch eindeutig als Werthmanns Handschrift erkennbar, bis sie in den sparsam dynamisierten Skulpturen ab 1980 wie „Schach-Patt“, „Tracciabis“, „Nauheimer Nau“ (Abb.), „Dyna-Vinci“ und der sogar spiegelnden „Gibigianna“ ganz aufgegeben wird. Die nach innen und auf sich selbst zurückweisende, gebrochene Form weicht vollends der in den umgebenden Raum zurückverweisenden glatten Oberfläche mit verhaltenem Relief.
Diese Reduzierung der Mittel wird ab 1987 konsequent fortgesetzt in einer Rückbesinnung auf das elementare Material des Beginnes, des schlichten leichten Stahlstabes. Dieser wird jetzt aber nicht gebogen, sondern erhält geschweißte Knoten, welche jederzeit veränderbar scheinen: das Transitorische, eines der Grundmerkmale der Plastik Werthmanns, erhält jetzt seine fragilste und zarteste Interpretation.

V Voraussetzungen

Vier Jahrzehnte spannungsvoller Entwicklung: Ausgangssituation ist die abstrakte Plastik der 50er Jahre, jedoch deren zweiter Hälfte, als sie ihre glatten immer wieder ineinanderfließenden Rundungen, die zu leicht genommen wurden, bereits abgelegt hatte zugunsten eindeutigerer, persönlicherer und gewagterer Formulierungen, deren Ursprünge nicht mehr bei Brancusi oder Arp lagen, sondern bei Picasso und Gonzales. Die Verselbständigung des Materiales Stahl fand beim Alles-Erfinder unseres Jahrhunderts in der „Figurine“ (Spies 84) im Jahre 1931 statt und auch Gonzales tat in diesen Jahren den Schritt von der lllusion zum Material. D.h. das Material ist zwar nach wie vor Vehikel zur Schaffung von Form und Raum, verleugnet sich selbst aber nicht mehr, ist nicht mehr austauschbar! Nur so konnte die Plastik in unserem Jahrhundert von der Überfrachtung mit vordergründiger Bedeutung im 19. Jahrhundert befreit und wieder Zeichen, Mal, unmittelbarer Ausdruck werden.

Vl Titel, Thema

Nichts anderes schafft Werthmann: Zeichen, Male, direkte Mitteilung. Anfänglich eventuell noch assoziierbare Inhalte werden durch die ironisch wortspielerischen Titel Werthmanns entkräftet. Diese durch Wortzusammensetzung, Nonsens-Aliteration, vielfach mit Hilfe verschiedener Sprachen (Wuppertaler, Düsseldorfer und Tessiner Dialekt, sowie Englisch für die bei Annely Juda gezeigten Werke) gebildeten Titel verschleiern und klären zugleich: verschleiern allzu rasch Verstandenes, so ist „Porcupine“ (1959 WVZ 39) eben kein Stachelschwein, während „Steelhenge“ (1977 WVZ 450), unbedingt die gegenwärtige Version eines magischen Kreises aus Malen ist, eindeutig dem Vorbild verpflichtet, jedoch im Material des technischen Zeitalters und geformt durch die Energieart, der sich unser Jahrhundert im Guten wie im Bösen verschrieben hat: der Explosions-Energie. Wie Eingangs betont, genügt es nicht, Werthmanns Plastiken als fertige ästhetische Objekte zu betrachten. Ihr Entstehungsprozeß bleibt nicht nur deutlich sichtbar, ja er scheint noch nicht abgeschlossen. Sie sind Zeugen eines transitorischen Moments, Zeichen des Entstehens und Werdens einen Augenblick vor der Zerstörung. Tröstlich ist, daß das Zerstörerische gebändigt ist und die Form dadurch trotz gefährlicher Thematik ohne Verniedlichung zur Harmonie findet, ohne die ein Zeichen, ein Mal nicht Kunstwerk sein kann.

Vll Binnenraum und Umraum

Ein weiteres Merkmal der Plastik Werthmanns, das sich – wie wir auch bei den oben erwähnten sahen – folgerichtig und sukzessive entwickelte, muß noch erwähnt werden: Plastik ist notwendigerweise „raum-greifend“; bei Werthmann waren aber selbst die größten Brunnen-Skulpturen der 50er und der 60er Jahre in ihrer konzentrischen Komposition so angelegt, daß sich die zentrifugalen und die zentripetalen Kräfte ausglichen. Dies gilt selbst noch für die „Kulminierende Sphäre“ des Jahres 1970 vor der Volksschule Düsseldorf-Wittlaer (WVZ 284) trotz ihrer kometenartigen Gerichtetheit. Mit den Horizontenteilern (WVZ 359, 360, 369) wird dieses Gleichgewicht in der Skulptur selbst aufgegeben und unter Einbeziehung der Natur neu gesucht, so in der einzelnen schlanken Gerte der „S’po’be’mia“, die den letztlich waagerecht verlaufenden Wellen der Tessiner Bergwelt ihre variierte Senkrechte entgegensetzt, und in der sich ins Unendliche nach oben verlierenden „Steilen Naht“ (1975 WVZ 377). Ebenso weisen „Tracciabis“, „Schlangenspur“ und „Gibigianna“ (1982 WVZ 501) über sich selbst hinaus.
„Steelhenge“ und „Schach-Patt“ beherrschen Himmel und Landschaft und sind keine auf sich bezogenen Objekte. „Trapass“ und „Dyna-Vinci“ weisen mit ihren nach außen gewandten Zylinder-Segmenten in den Raum, die „Gibigianna“ soll durch die Vegetation laufen und diese noch einmal spiegeln.
Die jüngsten Plastiken seit 1987 aus schlichten Stangen und verbindenden Knoten sind zarte Gerüste, welche jedoch durch ihre innere Spannung und genaue Gerichtetheit weit in den Raum strahlen. Sie setzen die Entwicklung der Werthmannschen Plastik von der Ruhe der ausgeglichenen zentrifugalen und zentripetalen Kräfte zu immer raumheischenderen Gebilden konsequent fort, jedoch in hoher Reduktion der Mittel, gleichsam nur noch die Begren-zungs-Linien für Spannungs-Felder schaffend.

Vlll Kraft und Maß

Wie oft, wenn in der Kunst Bezüge und Dimensionen ins Unendliche drängen, neigt auch Werthmann dazu, die Proportionen seiner Skulpturen einem Zahl-Prinzip unterzuordnen, das jedoch nie zu starrem System wird: anfänglich gab es Reihungen, jedoch ohne ein bestimmtes System der Zahl. Das Maß der verwendeten Werkstücke war das des zufällig Vorgefundenen, das Industrie-Norm-Maß, oder es wurde nach Augenmaß geschnitten. 1980 stellt sich zum ersten Mal das Problem gleichförmig wiederholter Maße: beim Projekt „Tracciabis“ werden zwei Platten des Industrie-Maßes 100 x 200 cm so geschnitten, daß 2 Mal 18 Teile zu je 33,3 cm Seitenlänge entstehen. Sie werden aneinandergereiht und in sie eine Sinus-Cosinus-Kurve als „Schlangenspur“ gesprengt. Im Herbst 1980 entsteht dann „Schach-Patt“. Auf der Unterlage der regelmäßigen Quadrate des Schachbrettes stehen sich die Figuren in Ausgangsstellung gegenüber, scheinbar zum Angriff im königlichen Spiel bereit. Jedoch: Alle Figuren sind gleich, zwischen Bauer und König kein Unterschied, unnötig zu betonen, daß die Figuren fest verschweißt sind; das Spiel, letztlich Sinnbild des Krieges, findet nicht statt: Patt! Patt aber nicht nur in diesem Sinne, patt ist auch das Verhältnis von gefülltem und leerem Raum in dem halben Kubus, den Brett und Spieler von 5 x 5 x 2,5 m bilden, sind doch die beiden äußeren imaginären Einzel-Kuben-Reihen jeweils durch die Schachfiguren angefüllt, die vier mittleren dagegen leer, ein Umstand, der die Patt-Situation endgültig zu besiegeln scheint (tröstlich wiederum, weil richtig). Um imaginäre Kubenreihen handelt es sich tatsächlich. Das Grundmaß, auf das Schachbrett angewendet, ergibt eine Seitenlänge des Brettes von 5 m und bei einer Höhe der Figuren von 2,5 m einen Rauminhalt der Gesamtform von 62,5 Kubikmetern. Das Maß 62,5 cm entspricht zwei Fuss und stellt ein Erfahrungsgrundmaß beim Bauen dar: Zwei Steigungen und ein Auftritt einer Treppe sollten zusammen zwei Fuß betragen, zwei Fuß Breite benötigt der Mensch, um frei Stehen oder Sitzen zu können. Auch die heutige Industrie-Norm basiert noch auf derartigen Maßen: konnten die 64 Platten von „Schach-Patt“ doch ohne Verlust aus Blechen der Norm-Größe 125 x 250 cm geschnitten werden. Das gleiche gilt für die Felder der „Schlangenspur“ im Frühjahr 1981, die ebenfalls 62,5 x 62,5 cm messen. Bei der „Gibigianna“ wird 1982 die Kantenlänge verdoppelt, das Grundmaß aber beibehalten. Nun sind Zahlen und Maßeinheiten nicht abstraktes Spiel, sie sind Grundlage von Harmonie und Ordnung in den Künsten, auf die hier wieder zurückgegriffen wird, um Maß und Harmonie des Ganzen der zerstörerischen Kraft des Details gegenüberzustellen.

IX Kunsfform

Werthmanns Plastik ist in den drei Formen-Welten, die uns umgeben, Kunstform par excellence. Sie ist im Großen wie im Detail den Formen-Welten der Natur und des täglichen Nutzens herausfordernd gegenübergestellt, um – so könnte man sagen – die hohe Qualität der bedrohten Natur-Form zu unterstreichen und ebenso die bedrohend geringe Qualität der aggressiv sich ausweitenden Nutzform. Hier gilt es neu zu unterscheiden, da jedes Artefakt zum Kunstwerk erklärt wurde: daß Faustkeil und Fruchbarkeitsfetisch, Stadtmauer und Tempel von gleicher Hand geschaffen wurden und daher in Bearbeitung, Dekor und Stil Gemeinsamkeiten zeigen, darf über den grundsätzlichen Unterschied des Zweckes und der Bedeutung nicht hinwegtäuschen. Auch wenn Werthmanns Plastik in Einzelfällen durchaus Funktionen erfüllen kann und könnte, so unterscheidet sie sich doch von der heutigen Nutzform grundsätzlich, ja ist ihr entgegengesetzt.

Im Gegensatz zu Christo und Serra, welche gebräuchliche technische Nutzformen verwenden – seien es zeltartige Gebilde oder Verpackungen oder unveränderte Metallplatten, wie sie aus dem Walzwerk kommen –, die durch ihre Zuordnung der Natur- und Nutzlandschaft und ihre scheinbar „falsche“ Anwendung raumgreifende Wirkung, Monumentalität und zeichenhafte Bedeutung erlangen, entnimmt Werthmann nur das Material und den Herstellungsprozeß der Nutzwelt des technischen Zeitalters, seine Formenwelt arbeitet ihr bewußt entgegen, ist weder organisch noch anorganisch, ist ein Trotzdem und ein Dennoch, ein Gegenüber von Natur und Technik in gleicher Weise, schlußendlich: Kunst – wieder oder noch – im ureigensten Sinne! (z.B. „Viersener Vierling“ WVZ 476, für die Zuluft einer Klima-Anlage für 2.500 Menschen)

Werthmann hat in seinen Plastiken – dynamisierten Formen eines transitorischen Augenblicks, deren Rauminhalt größer ist, als die Oberfläche der Umhüllung es zuläßt – das ausgeführt, was Carola Giedion-Welcker 1954, kurz bevor Werthmann zu eigener Form fand, voraussah: „Eine Welt von raumumflossenen, raumbezogenen Gebilden scheint in voller Enffaltung“, und postulierte „... die Umwandlung von Statik in Dynamik, von Materie in Energie...“

Henze, Wolfgang
Friederich Werthmann – Plastik.
In: Katalog 42 der Galleria Henze, Campione d‘ltalia 1988