Sabine Fehlemann
"Friederich Werthmann - Skulpturen"


„Ich bringe den Stahl aus einem technischen Bereich in einen poetischen Bereich, genauer gesagt in eine Form, die es inder Natur nicht gibt, die nur durch meine Skulptur entsteht.“
(Friederich Werthmann, Ausstellungskatalog, Wilhelm Lehmbruck-Museum, Duisburg, 1978)


Im Gegensatz zum traditionellen geht der abstrakte Bildhauer Friederich Werthmann die Materie – sein Werkstoff ist das Metall – direkt an, bearbeitet Stahl wie ein Schweißer mit den Techniken eines Handwerkers. Werthmann macht Stahl scheinbar elastisch, verwendet dünne Stäbe, damit sie zu leicht erscheinenden und doch festen Trägern einer luftigen Konstruktion werden. Der massige plastische Körper der traditionellen Skulptur wird zu einer offenen, licht- und luftdurchlässigen Konstruktion.

„Wohl kein anderer Künstler hat je Stahl zu solchem Ausdruck gebracht, solche Folgen individueller Eindrücke geschaffen, in solch weiter, emotionaler Folge geforscht“. (Frank Whitford, Katalog Friederich Werthmann, Karl Ernst Osthaus-Museum in Hagen, 1969)

Die Skulpturen von Werthmann gehen weit über alles Figürliche hinaus, wie sie zum Beispiel bei Abstraktionen von Gonzales oder Picasso immer noch assoziiert werden können. Bei ihm gibt es keine bildhafte Absicht mehr. Er formt das Material zu abstrakter Assoziation wie Leichtigkeit, Flug, Wind, Luft, Bewegung. Seine Titel sind poetische Einkreisungen. Das Metall legt ihm dabei keine Fesseln mehr an oder strenge Gesetze auf, wie noch Stein, Ton oder Erde. Werth-mann scheint gegen die Schwerkraft angetreten zu sein und sie für eine gewisse Zeit besiegt zu haben, bis er sich später anderen, neuen Themen zuwendet. In konsequenter Fortführung des Kampfes gegen die Zwänge und Schwere des Materials geht er ab 1975 zu dessen Sprengung mit Dynamit als Zerreißprobe über: eine folgerichtige, doch vom Spielerischen zum Ernsten hin tendierende Entwicklung. Dann wird sein Dynamismus mit Dynamit geformt. Doch in den frühen, offenen Formen, die Werthmann seit 1957 entwickelte, liegt schon ein unermesslicher Reichtum an Möglichkeiten für völlig neue, plastische Ausdruckswerte. Es sind Befreiungen von allen Konventionen und Vorurteilen hin zur Autonomie von Formen und Ideen, die erst durch das Material möglich werden. Die Phantasie gehorcht nur noch ihren eigenen Gesetzen, eine energiegeladene Bewegtheit scheint sich über die unbewegte Statik auszubreiten. Vibrationen von Formen suchen ihre Harmonie im Raum. Den Herstellungs-prozess des Stahls macht er sich zu eigen, doch seine Formenwelt arbeitet ihr bewusst entgegen, er umverwandelt Stahl in Dynamik und Materie in Energie.

Seine Versuche entdecken neue Eigenschaften des Metalls. Der harte, schwere Stahl wird bewältigt und leicht. In einer späteren Phase werden die Formele-mente, Metallstücke, einer neuen Ordnung zugeführt, die Bearbeitung des Metalls wird differenzierter, scharfe Zacken, Kammformen und Gelenke entstehen, die die Metallteile verzahnen und mit dem Raum verschränken. Die künstlerische Erfindung wird poetisch. Zufälligkeiten wie Risse und Tropfen vom Elektroschweißen werden vom Künstler bewusst als gestalterisches Mittel genutzt.

Die Skulpturen von Friederich Werthmann entfalten Rhythmen und Struktur zwischen Luft und Materie. Sie ziehen den Betrachter an, ihre Räume mit den Augen zu durchwandern. Sie dehnen sich elastisch aus zwischen Licht und Luft mit einem Minimum an Material, als ob sie alle Dichte und Schwere abgelegt hätten. Bogenlinien, kleinteilig, fächerartig verknüpft, sind von leichter Beschwingtheit in voller Übereinstimmung mit der Natur.
Eine schöpferische Unruhe treibt den Künstler, dem Material eine Leichtigkeit abzuverlangen, die Erregendes mit Gespanntem verbindet. Werthmann bleibt in der Skulptur ein Zeichner, obwohl er im klassischen Sinn keine Vorzeichnungen für seine Skulpturen entwickelt. Seine Kunst ist mehr Linie und Fläche im Raum. Werthmann zeigt kühne, dynamische Kombinationen in räumlicher Anordnung von Stäben und Stangen. Er schafft Strukturen von Bewegung. Diese tragen ein lyrisches, musikalisches Element in sich, sind von äußerster Subtilität und Intellektualität, da er zugunsten der Linie auf Volumen verzichtet, Raum durch Umrisse schafft. Es entstehen abstrakte Gestaltzeichen in Licht und Schatten von Raum. Das Gebilde wird als solches zum schwingenden Ereignis, als lebendige, organische Kunst, weniger konstruktiv, mehr gleitend in kosmischer Harmonie. Der spielerische Geist des Künstlers geht mit der strengen Materie unerwartet frei um. Man spürt auch in den Titeln das Vergnügen des Künstlers, seltsame Formulierungen zu wagen und Verwunderung auszulösen.

Nur abstrakte Formen können, wie die Mobiles Calders z.B. Bewegung zum Ausdruck bringen, weil es sich um rein emotionale Bewegung handelt und nicht um dramatisch inhaltliche. Es ist natürlich, dass die Kunst einer Gesellschaft, deren Leben immer mehr durch Bewegung bestimmt wird, neue Verfahren, neue Darstellungsformen und Interpretationen von Bewegung herausbildet.
Die Erfahrungen des Futurismus werden aufgegriffen, die bereits eine abstrakte Illusion von Bewegung inszeniert haben.
Kleine Metallscheiben scheinen sich im Licht zu bewegen, lange dünne Arme zittern wie Antennen oder Fühler in der Luft oder bewegen sich wie Pflanzen im Wind. Werthmann spielt mit der Bewegungsidee in dünnen Stangen, Scheiben und Kugeln, die als Form ja bereits Bewegung in sich tragen auch ohne den an-treibenden Stoß. Die spielerische Phantasie ist Werthmanns stärkste Inspira-tionsquelle. Unverbraucht sind seine Gedanken und die Resultate heimliche Flüge in nicht Darstellbares, aus dem statischen Gleichgewicht geführt, unsicher, schwankend und ständig in Frage stellend, von der Nachahmung weg, hin zu neuer Wirklichkeit.

Fragt man bei Bildhauern, Skulpteuren oder Plastikern nicht zuerst nach der Gestaltung eines Volumens? Der eine haut Bilder, er gestaltet gegenständlich Figurales, der andere schnitzt oder meißelt aus Holz oder Stein, der dritte gestaltet mit Gips oder Ton etwas zu einer Plastik. Doch Friederich Werthmann schweißt Metalle, mal als pfeildünne Zeichen, phantasievolle Strukturen, offene Raumgebilde halb vegetabiler Art in ihrer Zartgliedrigkeit, später auch als körperliche Kuben, Halbkugeln oder Säulen. In Metall kann das Volumen in grati-gem Aufbau weitgehend entmaterialisiert werden. Werthmann vollzieht Reihungen im Raum, Rhythmen, Strukturen, Schichtungen und schließlich auch Störungen bis hin zu Zerstörungen.

Die Erstlinge von Werthmann, ab 1953, waren noch aus Holz oder Stein, doch ab 1957 arbeitet er in Kupfer und dann in Stahl und Remanit (Chrom-Nickel-Stahl. Der Begriff Remanit bezieht sich auf remanere = bleiben). Als wenn er Netze schweben lassen wollte oder dem Aufwehen von fliegenden Blättern im Wind als Bewegung der Dynamik eines unsichtbar gegebenen Rhythmus folgen wollte. Es ist Leichtigkeit, es ist Poesie. Um 1959 entstehen erste Volumina, als „Ballung“ und Rundungen. „Opus 111“ (WVZ 36, Abb.) bezieht sich auf eine Sonate von Beethoven, die ebenso dynamisch und abstrakt ist und hier ebenso wie die Sonate nicht aus drei, sondern ausnahmsweise nur aus zwei „Sätzen“ besteht. Auch die „Strukturbad“ (WVZ 43, für die F.W. 1959 in Baden-Baden der „Kunstpreis der Jugend“ verliehen wurde) im Von der Heydt-Museum besteht noch aus ähnlichen schrägen Schraffur-Lineamenten im Raum, spitzig mit einzelnen Akzenten. Ein Schwarm kleiner Fische, die in gleiche Richtung ziehen, scheint die Struktur „Remanit“ von 1959 zu sein (WVZ 48). 1960/61 erfindet er die Kugel und variiert sie vielfach zu Kontinua. Erste Brunnen entstehen, wie vor dem Landgericht in Düsseldorf von 1962 (WVZ 120). Die Wasserstrahlen verlängern seine metallfingrigen Tentakel und formen auf der Wasserfläche eine sich bewegende Acht. Noch immer weicht Friederich Werthmann voluminöser Räumlichkeit oder glatter Flächigkeit aus, auch wenn sich seine Raumlinien langsam verdichten. Oft sind die Titel als Bezeichnungen kompakter als die Werke, das „Porcupine“ genannte Stachelschwein z.B. besteht nur aus Stacheln (WVZ 39), das „Traumsegel“ hat viele Löcher (WVZ 147), der „Noyau“ – der Kern – ist durchlässig (WVZ 138), der „Ball“ ebenso (WVZ 149), „die Nuss“ ist nur eine löchrige Schale (WVZ 160), „die Auster“ kann das Wasser gar nicht halten (WVZ 171). In zwei Reliefs grüsst Werthmann den ihm verwandten Bildhauer Kemeny (WVZ 194, 197). Den abstrakten „Pegasus“ lässt er im Aufwind schweben (WVZ 209). Ab 1966 entstehen Körper, die Fühler zu haben scheinen, die den Raum abgreifen. In französischer, englischer, Wuppertaler und Tessiner Sprache gibt es Titel für seine fremdartigen Gebilde, wie z.B. „Bom-mel“, was in örtlichem Platt soviel wie „Bengel“ heißt, und ein umtriebiger Junge ist (WVZ 221) oder „Di a Di“ (WVZ 251) = von Tag zu Tag. Der „Sögnadoo“ (WVZ 263) ist ein Träumer. Werthmanns „Assel“ (WVZ 242) ist ein Tausendfüßler. Insekten- und Spinnenartiges taucht seit 1968 auf, ebenso wie zum ersten Mal mit „Discobol“ nicht mehr Lineares sondern runde, gewölbte Stahlflächen (WVZ 248).
Um 1970 entstehen erste mehrteilige kleine „aufgeplatzte“ Kügelchen als „diverse Bällerkens“ (WVZ 273) gleichzeitig mit verwehten, linearen Zeichen, die inzwischen gelegentlich auch auf hohen Stengeln stehen wie z.B. „Fifo“ (WVZ 277). Die Kugel und das Lineament bleiben die Elemente Werthmanns, auch runde Scheiben und Umrisse entwickeln sich daraus mit Verwerfungen und Verweisungen. Knoten bilden sich in den Linien, Parallelen bilden sich. Die Titel erhalten poetische Zusätze: „Mabruk“ z.B. heißt Glückwunsch und kommt aus dem Arabischen (WVZ 345). Mit sechs Meter hohen „Halmen“ teilt Werthmann den Horizont 1974, schafft „Kugeln mit Blötsche“ (WVZ 364) und „Implosionen“ (WVZ 362).

1975 experimentiert Friederich Werthmann zum ersten Mal mit Dynamit. Das Material Remanit wird bombiert oder platzt auf. Die Röhre scheint ihm zum Sprengen besonders geeignet. Auch tellerartige Rundflächen werden in der Mitte bombiert. Kuben werden traktiert. Verletzung und Zerstörung der Form wird in den Gestaltungsprozess einbezogen. Werthmann steuert das Ergebnis der Explosion zu einem schöpferischen, kreativen Eingriff. Die Hüllen werden zum Platzen gebracht, wie die Schalen von reifen Früchten.
Manchmal wird auch nach innen oder unten ein Loch gesprengt. Es bleiben die Spuren der Gewalt sichtbar. Flächen werden aufgerissen oder die Beulen sehen aus, als habe ein Mensch sie mit seinem Körper hochgehoben. Die Kraft, die diese Beulen erzeugt, ist verglüht. Spuren der Gewalt bleiben sichtbar. Bis 1977 entstehen fast 100 neue Werke in dieser Spreng-Technik. Aufgerissen, geplatzt, zumindest beschädigt werden diese Skulpturen bis 1979 zu sprechenden Beispielen von Formgebung durch Gewalt. Diese dynamisierten Objekte stehen vielfach als Kunst im öffentlichen Raum in den Städten, z.B. in Erkrath-Hochdahl, in Viersen, in Schlangenbad, in Bonn, in Duisburg, Münster, Wuppertal und Mülheim.

Dann erfindet Werthmann den Loop, eine sich fort schlängelnde Stahlschlange, die auch im Freien unter dem Rasen weiterläuft, bevor sie sich wieder in die Höhe windet, z.B „Siebener Sinus mit Loop“ (WVZ 622) oder „Sindeloop mit Sinusfinger“ (WVZ 623). Seine bis hier letzte Erfindung sind die Parallelogramme seit 1987: zarte gerade Linien, die in den geschweißten Knoten ihre Richtung ändern, sich doppeln oder vervielfältigen: Gebilde bis zu 2,80 m Höhe. In den späten 80er Jahren greift der Künstler auch auf frühere Ideen zurück, lässt sich neu inspirieren mit Varianten von Keulen und Kugeln, die aufplatzen und einigem mehr. Vielfältig wird das Programm. Das gesamte Œuvre bis 2002 liegt nun vor. Doch dem inzwischen 75-jährigen, 1927 in Barmen geborenen, umtriebigen Friederich Werthmann wird sicher noch viel Neues einfallen.


In:
Fehlemann, Sabine (Hrsg.)
Friederich Werthmann Skulpturen - Werkverzeichnis 1957 - 2002
bearbeitet von Marern
Heyne und Hartmut Witte
Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2003