Uwe Rüth
Entelechien
Über die Plastiken von Friederich Werthmann



Friederich Werthmanns künstlerischer Werdegang wurde stark beeinflusst durch die Wirren des letzten Weltkrieges. 1927 geboren, gehörte er mit zu den 'Kindersoldaten’, die 1944 noch in den Krieg geschickt wurden und anschließend vor dem Chaos standen, in das Ordnung gebracht werden musste. Nach der Gefangenschaft setzt Werthmann seine Schulausbildung auf dem Gymnasium fort, um es 1948, 21jährig, zu verlassen. Der Entschluss war gefasst, Künstler zu werden. Nun reiste er zunächst durch Süddeutschland, die Schweiz und Österreich, um den richtigen Weg für sich zu finden, dieses Ziel zu erreichen. 1949 beginnt er in Wuppertal-Barmen, seinem Geburtsort, eine Maurerlehre und legt ein Jahr später die Gesellenprüfung ab. Während dieser Zeit schafft er erste figurale Skulpturen aus Holz und Stein, später auch aus Beton. Er ist – im besten Sinne – Autodidakt, der sich selbst Handwerk und künstlerische Denkweise lehrte. In seinen theoretischen Äußerungen beweist er sich als ein aus der europäischen Kunstgeschichte heraus gebildeter, zeitimmanent denkender Künstler, dessen drei Basis gebende Bezugsgrößen – Raum, Dynamik und Entelechie – sein gesamtes Werk durchziehen und charakterisieren.

Seit 1955 konzentrierte sich Friederich Werthmann auf Stahlplastiken, die ihn schon bald international bekannt machten. Einzelausstellungen in Lausanne, Bonn, Wuppertal, Mailand etc. folgen. Seit 1956 lebt und arbeitet er in Düsseldorf-Kaiserswerth und seit 1968 auch in San Nazzaro, Tessin. Neben kleineren Arbeiten sind besonders die Architektur und Raum bezogenen Werke der späten 50er bis 70er Jahre zu erwähnen, die ihm international große Anerkennung brachten und seinen Werken Eingang in bedeutende Sammlungen verschafften. Bis 1975 arbeitet er an Plastiken mit offenen Raumstrukturen, die aus kleinen gleichen Stahlstäben zusammengeschweißt sind. Sie scheinen auf den ersten Blick der Kunstrichtung des Informels anzugehören, folgen jedoch im Gegensatz zur Spontaneität dieses Stils einer konzeptionellen Grundeinstellung. Raum wird umspannt, eingefasst, aber nicht abgegrenzt, eingeschlossen. Lebendigkeit und Dynamik der aus vielen kleinen Einzelteilen zusammengesetzten Gesamtstrukturen erinnern an Fisch- oder Vogelschwärme, die sich wie ein gemeinsamer dynamischer Raumkörper bewegen.

1975 beginnt er mit den sogenannten 'Dynas’: durch kontrollierte Dynamit-Sprengungen geformte Edelstahlkörper und -platten. Waren seine dynamischen Bewegungsstrukturen bis dahin Raum formend und umfließend, so zeigen die neuen Arbeiten die Wirkweisen der Kräfte, die in einem umschlossenen, hinter Oberflächen versteckten Raum zusammengedrängt ruhen, bis sie vom Künstler erweckt werden und die glänzenden Stahlflächen nicht nur nach außen verformen, sondern diese sogar in kraftvollen, aufreißenden Spuren durchbrechen. Das neue Konzept der kontrollierten Sprengung als sinnlicher Ausdruck abgeschotteter oder verdeckter Raumkräfte ist von Friederich Werthmann in den unterschiedlichsten Werkzyklen bis 1987 durchgespielt worden.

1987 beginnt eine neue Werkphase, in der lineare Raumformen aus Stahlstangen entstehen, die mit chaotischen Knoten verbunden, formale Kontraste zu den graden und glatten Lineamenten bilden.

Werthmann bestimmt in all seinen Arbeiten den Raum durch das Sichtbar-Machen der Dynamik (=Potenz) von Materie und deren Strukturierung hin zu einer vollendeten Form (= Entelechie). So setzen sich die frühen Plastiken (Trigone, Tripoden, Sphären und Kugeln) zusammen aus vielen einfach geformten, gleichen Metallelementen, die zur absoluten Raumform drängen. Hier soll das kleine Teil zum größeren, wie das größere zum Ganzen im idealen Verhältnis stehen: Also die Regel des Goldenen Schnitts, die absolute Proportion ist das oberste angestrebte Ziel seiner Formgebungen im Raum. „Auf welche Gestaltungsprinzipien lässt sich meine Arbeit skelettieren?“, fragt sich der Künstler und antwortet: „Die Kugel – (nicht vordergründig wichtig als geometrische Form) – die Sphäre als Kontinuum von Bewegungsformen, die – Entelechie – ihr Ziel in sich hat. Die Kapsel – Segmente zweier Sphären, vor ihrem Zusammenschluß oder vor ihrem Aufbruch.“

1954 stiess Friederich Werthmann zu der Gruppe 53, die „die 'neue Kunst’ – d.h. die informelle Malerei durchsetzen“ wollte und scheint mithin einer der informellen Künstler der damaligen Zeit in Düsseldorf gewesen zu sein. Doch unterscheidet das erwähnte, Basis gebende Konzept seine Arbeiten grundsätzlich von denen seiner Düsseldorfer Künstler-Freunde (Gerhard Hoehme, Winfred Gaul, Peter Brüning u.a.). Werthmann hat immer betont, kein Künstler des Informel zu sein, weil „all meinen Arbeiten ein Konzept zugrunde liegt“. Auch wenn dieses Konzept den Zufall nie ganz ausschließt, leiten sich die Kunstwerke doch alle von dem Willen des Künstlers her, die formalen Möglichkeiten der Materie durch eine dynamische Bearbeitung auszudrücken und die Kunstwerke bewusst und gesteuert zu schaffen, und nicht, wie es den informellen Freunden vorschwebte, den Kreativitätsprozess dem Unterbewusstsein und dem Zufall zu überlassen.

Dieser Grundzug seines künstlerischen Schaffens ist ebenso für die seit 1975 geschaffene Dyna – Gruppe charakteristisch. Scheint auf den ersten Blick auch die Sprengung der Stahlkörper mit Dynamit ein eher willkürlich Formen schaffender, unkontrollierter Prozess der Materialformung zu sein, so hat Werthmann genau das Gegenteil zur eigentlichen Technik seiner Arbeiten gemacht: Der Sprengvorgang wird durch ihn gesteuert, kalkuliert und gezielt Form gebend eingesetzt. Der dynamische Prozess der Kraftentfaltung gestaltet durch seinen zielgenauen Einsatz Formen in die metallenen Körper, die Kalkül und Zufall manipuliert durch den künstlerischen Akt und den darauf folgenden Selektionsprozess bewusst zusammenfallen lassen. Das Ergebnis sind Plastiken, die durch ihre Form Raumkräfte sichtbar machen und sie auf diese Weise aus ihrem unsichtbaren Gefängnis befreien: „Wie sind wir doch anmaßend, soviel Raum einzuschließen“, schreibt er lakonisch an einen italienischen Kritiker. Auch hier wird dem Betrachter der optische Weg zu einer Ganzheit gezeigt, zur Ganzheit eines von potenzieller Energie erfüllten, universellen Raums um uns und in uns. Wieder erlebt man in der plastischen Form der Skulpturen von Frie-derich Werthmann die materielle Aufzeichnung des dynamischen Wegs zu einem idealen Ziel.

Und auch in der 1987 einsetzenden dritten großen Werkreihe der 'Parallelogramme’ verfolgt Werthmann konsequent diesen Ansatz. Die Linien scheinen aus dem Unendlichen zu kommen, materialisieren sich in Stahlstäben, die ihre Richtungen in dicken, kraftvollen Schweißknoten verändern, verlaufen parallel oder in bestimmten rhythmischen Abknickungen, um dann wieder im Raum nicht sichtbar zu entschwinden. Hier ist die Dynamik der Materie die im Verlauf der Stahllinie und deren Knoten festgehaltene Bewegung, deren formaler Verlauf materialisierten Rhythmus und ästhetische Raumdurchdringung erleben lässt.

Friederich Werthmanns Arbeiten seit 1957 scheinen sich auf den ersten Blick in diese drei gänzlich unterschiedlichen Werkgruppen zu gliedern. Und doch ist eine grundsätzlich sie verbindende künstlerische Basis eindeutig auszumachen: Es geht um die im Raum wirkenden Kräfte, die ihn dynamisieren, in Bewegung bringen und dadurch Raum für den Menschen in den Form gewordenen Materialisierungen der Kunstwerke erlebbar machen. So wird der anonyme und leere Umraum in den oft bis zum Dramatischen geformten Oberflächen der Werthmannschen Plastiken für den Menschen sinnlich erlebbar, greifbar und nachvollziehbar.

Schon 1960 äußert sich Werthmann zu Eduard Trier: „Ähnlich wie in der Musik beruht auch bei mir das Gestaltungsprinzip auf Reihungen im Raum, Rhythmen, Strukturen, Schichtungen, Störungen und Verwandlungen (Zerstörungen)... Jede Ordnung braucht lebendige Störung und Verwandlung, um dynamisch zu werden.“ (Zitat aus: Eduard Trier, Figur und Raum, Berlin 1960, S. 46).


In:
Fehlemann, Sabine (Hrsg.)
Friederich Werthmann Skulpturen - Werkverzeichnis 1957 - 2002
bearbeitet von Marern
Heyne und Hartmut Witte
Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2003