Hartmut Witte
Friederich Werthmann
- Werke aus fünf Jahrzehnten


Friederich Werthmann gehört zu den bedeutendsten abstrakten Bildhauern der deutschen Kunst nach 1945. Sein plastisches Werk hat seinen Ausgang in der Zeit des Informel, er war Mitglied der Gruppe 53, der Avantgarde der Kunst des rheinischen Westens, die über die Region hinaus wegweisend wurde und die rheinische Kunstszene nachhaltig prägte. Mitglieder der Gruppe 53 waren u.a. der früh verstorbene Peter Brüning, Winfred Gaul, der mit Werthmann freundschaftlich verbundene Gerhard Hoehme, Konrad Klapheck, Heinz Mack, Otto Piene – unter diesen und anderen Malern Friederich Werthmann als Bildhauer.

Nun mag es eigentlich unsinnig scheinen, einen Bildhauer mit der Kunst des Informel in Verbindung zu bringen, denn das dreidimensionale Material der Skulptur lässt sich z.B. nicht mit spontaner Geste formen, das plastische Werk kann nicht auf den Halt eines Trägers wie etwa einer Leinwand vertrauen. Die Skulptur hat statische Gesetzmässigkeiten, die den spontanen Gestus nur dann zulassen, wenn zumindest das wörtlich zu nehmende Gerüst steht. Für eine gestische Skulptur bedeutet das, dass sie als Idee, als Konzept vorhanden sein muss, bevor sie im handwerklich technischen Prozess geformt resp. zusammengefügt wird.

Wie kaum ein anderer beherrscht Friederich Werthmann diesen Produktionsprozess, der seinen Skulpturen diese enorme Leichtigkeit, Spontaneität und Dynamik verleiht.

In Werthmanns erster Skulpturen-Werkgruppe der Jahre 1957 bis etwa 75 dominiert die Dynamik rhythmisierter und kontinuierlicher Bewegtheit das Werk. Durch die Ansammlung kleiner Elemente und aus der durch sie gebildeten Struktur definiert sich Form und Raum. Viele kleinere und größere Stahlstücke werden in einer offenen Struktur verschweisst, es entstehen Formen aus Vibration, Durchdringung und Bewegung.

Die zweite Werkgruppe ab 1975 betont die Dynamik der Form, deren innenliegende Kraft nach außen drängt und die eigenen Grenzen, die Umhüllung sprengt. Dies wird im wahrsten Sinne des Wortes erreicht durch die Gestaltung des Materials mit der Kraft explodierenden Dynamits, das – je nach Dosierung – den Stahl formt oder aufbricht. Die harte Form wird durch den Druck der Explosion scheinbar aufgeweicht, und die Skulpturen erhalten trotz der tatsächlichen Schwere des Chrom-Nickel-Stahls eine faszinierende Leichtigkeit.

Die dritte Werkgruppe ab 1987 betont die Dynamik des Raumes, der aufgenommen und strukturiert wird durch Bewegungslinien – Stahlstangen weisen die Richtung. Der Wechsel der Raumbeschreibung vollzieht sich in geschweißten, knotenartigen Verdickungen. Die von Werthmann so benannten „Parallelogramme“ beschreiben ausschnitthaft offene, nicht statische Räume, entsprechend beginnen die Skulpturen bei der leisesten Berührung zu vibrieren.

Werthmann entwirft seine Skulpturen ganz ohne Vorzeichnungen; Skizzierungen oder Vorarbeiten werden bereits im Original-Werkstoff Stahl gefertigt. Die Zeichnungen sind bei Werthmann keine Vorstufe zum plastischen Werk, sondern sie sind getragen von einem eigenständigen Gestaltungswillen parallel zur Skulptur. Beim Zeichnen bleibt Werthmann stets in der 2. Dimension – ohne Plastizität im Sinn zu haben oder zu imitieren. Dennoch sind sie in ihrer fast explosiven Gestik, dem Aufeinandertreffen und dem Innehalten von Energie und Bewegung, eng mit dem Konzept der Skulpturen verbunden.

Die Zeichnung ist bei Friederich Werthmann eine Art Grundstruktur des Schaffens, seine mentale und geistige Voraussetzung. Wohl nicht zufällig erinnern die Tuschen an Kalligrafisches, an aus tiefstem Bewußtsein Gestaltetes.

Beim zeichnerischen Werk Werthmanns geht es um das, was dem gesamten plastischen Werk innewohnt, um die ganz ursprünglichen Bedingungen des Schaffens – frei von jedem gegenständlichen Denken; es geht um die fließende Kontinuität von Zuständen, um gestische Bewegungsformen, rhythmische Verdichtungen und Überlagerungen, um strukturale Dimensionen. Wie in den Skulpturen geht es um Reihungen im Raum, um Intervalle, Strukturen und Schichtungen, um Störungen und Verwandlungen.

Die Tuschzeichnungen sind das Labor in dem die Grundlagenforschung für die plastische Arbeit stattfindet, hier wird entwickelt, es wird mit dynamischen Gesten experimentiert, mit aufeinander wirkenden Kräften. Eben mit genau dem, was seine plastischen Arbeiten ausmacht. Das zeichnerische Werk ist wie ein Alphabet des plastischen Schaffens, es entwickelt eine geformte Sprache, die allen Werkphasen gemeinsam ist. Das macht schlussendlich die über 50jährige Kontinuität der Zeichnungen einsichtig.

Katalogtext Galerie Maulberger & Becker 2012