Christoph Zuschlag Zur Kunst von Friederich Werthmann Die Ausstellung des Bildhauers Friederich Werthmann, die einen Querschnitt durch das plastische und das zeichnerische Werk von 1957 bis 2012 präsentiert, passt hervorragend in das Programm der Villa Wessel. Werthmanns Werk wurzelt nämlich im Informel, und die informelle Kunst bildet seit vielen Jahren einen Schwerpunkt im Ausstellungsprogramm des Hauses. Ich nenne an dieser Stelle aus dem Bereich der Bildhauerei nur den Namen Emil Cimiotti, der übrigens wie Werthmann Jahrgang 1927 ist und dem die letzte Ausstellung hier im Haus gewidmet war. Doch kann es informelle Plastik überhaupt geben (eine Frage, zu der sich auch Werthmann selbst kritisch geäußert hat)? Informel verbindet man gemeinhin außer mit Abstraktion mit Spontaneität, mit Geste, mit Geschwindigkeit, auch mit der Einbeziehung des Zufalls (denken Sie etwa an K. O. Götz). Bildhauerei hingegen folgt statischen und tektonischen Gesetzmäßigkeiten, das Material ist schwer und eigenwillig, es bietet Widerstand und verlangt ein langsameres Arbeiten. Doch nicht zuletzt der Blick auf Friederich Werthmanns Frühwerk zeigt, dass der Begriff informelle Plastik durchaus seine Berechtigung hat. Friederich Werthmann kam früh und als Autodidakt zur Kunst. Geboren 1927 in Barmen (heute ein Stadtteil von Wuppertal), musste er 1944 das Gymnasium verlassen und, gerade 17-jährig, in den Krieg ziehen. Er geriet in Gefangenschaft, aus der er im September 1945 freikam. 1948 bis 1949 unternahm er ausgedehnte Reisen durch Süddeutschland, die Schweiz und Österreich, durch die sich seine Entscheidung für den künstlerischen Weg festigte. 1950 legte Werthmann die Gesellenprüfung als Maurer ab, in dieser Phase entstanden erste Skulpturen aus Holz und Stein. 1954 begegnete er Jean-Pierre Wilhelm, der ab 1957 die später legendär gewordene Galerie 22 in Düsseldorf führte, deren Schwerpunkt im Informel lag (Werthmann stellte dort 1960 aus). Durch Wilhelm lernte Werthmann das Werk bedeutender Bildhauer wie Hans Arp, Constantin Brancusi und Henry Moore kennen (Arp und Moore sollte er dann später auch persönlich treffen). Wilhelm führte Werthmann in eine Kunstwelt ein, in der die Abstraktion eine wichtige Rolle spielte. In diesem Zusammenhang ist auch Werthmanns Mitgliedschaft in der Gruppe 53 in Düsseldorf wichtig, eine der Keimzellen des Informel in Deutschland. Mit Gerhard Hoehme, dem zeitweiligen Vorsitzenden der Gruppe 53, verband Werthmann eine Freundschaft. Nach dem tragischen Verkehrsunfalltod seiner Frau und seiner Tochter im Jahre 1962 heiratete Werthmann 1963 die Fotografin Maren Heyne. Friederich Werthmann lebt und arbeitet in Düsseldorf-Kaiserswerth. Zunächst zu den Plastiken. Diese schuf Werthmann ab 1957 ausschließlich und direkt in Stahl. Indirekte Techniken, wie das Modellieren mit nachfolgendem Guss, vermied er. Die ältesten Skulpturen in der Ausstellung sind zwischen 1957 und 1959 entstanden: Toccata, Opus 111 und Struktur Uccello im ersten Raum sowie Trigon 1 und Trigon Venlo. Eine Vielzahl kleiner miteinander verschweißter Stahlteile bildet jeweils eine offene, filligrane und rhythmisierte Struktur. In ihrem Wechselspiel von Formverdichtung und Formauflösung erscheinen die Skulpturen trotz ihrer statischen Natur und ihres physischen Gewichts dynamisch bewegt und leicht. Naturassoziationen stellen sich ein. So kann man etwa bei Trigon 1 und insbesondere bei der zwei Meter fünfzig hohen Skulptur Trigon Venlo an aufsteigende Vogelschwärme denken. Struktur Uccello erinnert an einen einzelnen Vogel, wobei der Titel doppeldeutig ist (Uccello heißt im Italienischen Vogel und ist zugleich der Name eines bedeutenden italienischen Renaissancekünstlers). Der Titel Toccata greift einen Begriff aus der Musik auf (denken Sie etwa an Johann Sebastian Bach) und Opus 111 bezieht sich auf eine Sonate von Beethoven - diese musikalischen Titel sind kein Zufall. Hierzu Friederich Werthmann 1960, Zitat: „Ähnlich wie in der Musik beruht auch bei mir das Gestaltungsprinzip auf Reihungen im Raum: Rhythmen, Strukturen, Schichtungen; darin Störungen, Zerstörungen und Verwandlungen. Jede Ordnung braucht die Störung und Verwandlung, um dynamisch zu werden“ (Katalog Maulberger & Becker 2012, S. 14). Dynamik, also Bewegung, erweist sich als Leitmotiv der Kunst von Friederich Werthmann. Dynamik, Bewegung begegnet uns auf vielfache Art im Werk von Werthmann. Meist als in der Form angedeutete, also virtuelle Bewegung, bisweilen aber auch als tatsächliche, als physische Bewegung der plastischen Körper (wir sprechen dann von kinetischer Skulptur). So etwa in der auf einem hohen Sockel ruhenden Skulptur Sögnadoo von 1969. Das Wort entstammt dem Tessiner Dialekt und bedeutet Träumer (der Künstler unterhielt ab 1968 ein Atelier in San Nazzaro im Tessin unweit von Locarno). Die beiden an stählernen Armen hängenden verdichteten Partien der Skulptur, die entfernt an eine Waage erinnert, lagern frei auf einer in der Mitte befindlichen Stahlkugel, man kann und soll sie antippen und drehen und auf diese Weise in Bewegung versetzen. Andere Skulpturen lassen sich bei leisester Berührung in Vibration und Schwingung versetzen. Aus der Frühphase stammt auch die Skulptur Kreisende Wiederkehr aus dem Jahr 1960, die auf dem Umschlag des Werkverzeichnisses und auch auf der Einladung abgebildet ist und die ich deswegen hervorheben möchte, weil sie ein frühes Beispiel für die kugelförmigen Werke Werthmanns ist, die in seinem Werk eine Schlüsselrolle spielen. So griff der Künstler die Kugelform auch bei mehreren seiner bedeutenden Skulpturen im öffentlichen Raum auf, etwa bei den großen Brunnenanlagen in Bocholt, Duisburg und Düsseldorf, aber auch in Neu-Dehli und Dublin und in vielen weiteren Städten weltweit. Kreis und Kugel gelten als ideale Formen, sie stehen sinnbildlich für die Ordnung der Welt, zugleich symbolisieren sie Unendlichkeit und den Kosmos. Bei Werthmann begegnet uns die Kugelform häufig in Verbindung mit dem für ihn wichtigen Begriff der Entelechie, der von Aris- toteles eingeführt wurde und, vereinfacht gesagt, Selbstverwirklichung meint. Ich zitiere Wikipedia: In der Philosophie versteht man unter Entelechie die Eigenschaft von etwas, sein Ziel (Telos) in sich selbst zu haben. Er bezeichnet die Form, die sich im Stoff verwirklicht, besonders im Sinne einer dem Organismus innewohnenden Kraft, die ihn zur Selbstverwirklichung bringt. Mitte der 1970er-Jahre setzt eine neue Werkphase bei Friederich Werthmann ein, die sogenannten Dynamisierungen. Er nimmt sein Thema, Dynamik, gleichsam wörtlich und setzt Dynamit, also Sprengstoff, im bildnerischen Schaffensprozess ein. Das explodierende Dynamit formt das nun ganz glatte und spiegelnde Material, bläht es auf wie in der kissenähnlichen Bodenplastik Dyna Paket 1, es sorgt für eine kugelförmige Ausstülpung wie in der Mitte der kreisrunden, auf einem flachen Sockel ruhenden Skulptur Dyna Discobol. Auch die knospenartigen Verdickungen, die Beulen in den schlanken Stahlstelen der Arbeit Sechser-Reihe verdanken sich dem Einsatz von Dynamit. In manchen Fällen reißt der Stahl unter der Wucht der Explosion auf, ein Beispiel hierfür ist das türgroße Relief Kasten Knospe. 1987 kehrt Werthmann wieder zu ausschließlich geschweißten Arbeiten zurück, es entsteht die Werkgruppe der Parallelogramme, die in der Ausstellung jedoch nicht vertreten ist, weswegen ich es bei diesem Hinweis belasse. Wichtig ist, dass Werthmanns Skulpturen immer ohne Vorzeichnungen entstanden sind, Skizzen und andere Vorarbeiten (zumal für die monumentalen Arbeiten) hat er stets bereits im Werkstoff Stahl ausgeführt. Zwar basiert jede seiner Arbeiten auf einem Konzept, aber die bildnerische Form wird im Detail nicht vorgeplant, sondern entsteht erst im Schaffensprozess, im Dialog des Künstlers mit seinen Gestaltungsmitteln, also dem Werkstoff Stahl und den eingesetzten Werkzeugen und Bearbeitungstechniken. Dabei spielt auch der Zufall eine Rolle. Diese Offenheit des Werkprozesses ist in meinen Augen das wesentliche Charakteristikum des Informel. Werthmanns Tuschezeichnungen, auf die ich nun abschließend zu sprechen komme, sind keine Vorstufen zum plastischen Œuvre, keine klassischen Bildhauerzeichnungen, sondern ganz eigenständige Werke. Seit 1956 fertigt Werthmann Pinselzeichnungen in Tusche. Seit er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr plastisch arbeiten kann, sind sie zum alleinigen Arbeitsschwerpunkt geworden. Es handelt sich um informelle, gestische, der Kalligrafie verwandte Arbeiten, die sich parallel zum bildhauerischen Werk ohne größere Brüche kontinuierlich entwickelten. Werthmann verwendet breite Pinsel und die wasserlösliche tiefschwarze Tusche Skriptol. Diese lässt der Künstler antrocknen, um sie dann durch Wasser teilweise wieder aufzulösen und abzuwaschen, wodurch die Grauwerte in den Zeichnungen entstehen. „Trotz ihrer Eigenständigkeit sind die Zeichnungen“, ich zitiere Hartmut Witte, „in ihrer fast explosiven Gestik und dem Aufeinandertreffen und dem Innehalten von Energie und Bewegung eng mit dem Gestaltungskonzept der Skulpturen verbunden“ (WVZ, S. 256). Wie keinem anderen Bildhauer seiner Generation gelingt es Friederich Werthmann, die Schwere und Statik des Materials Stahl in Leichtigkeit, in Bewegung, in Poesie zu verwandeln und sein künstlerisches Lebensthema auch im Medium der Zeichnung auf höchst originelle Weise umzusetzen. Und das ist eine herausragende Leistung. in: Witte, Hartmut Friederich Werthmann in der Villa Wessel Dokumentation der Ausstellung 2.9.-6.11.2016 |
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